EINLEITUNG
Makoto Miyashita (1961 - 2009) studierte Kunstgeschichte an der Waseda Universität in Tokyo und promovierte 2007 bei Prof. em. Dr. Gottfried Boehm an der Universität Basel. Von 2006 bis 2009 war er Professor für Kunstgeschichte an der Kokugakuin Universität in Tokyo. Er veröffentlichte zahlreiche Forschungsarbeiten über die Moderne Kunst und Musik, insbesondere über Paul Klee. Seine bisher zu wenig beachtete Dissertation Paul Klee und der Surrealismus machen wir als Sonderbeilage der Zwitschern-Maschine dem breiten Klee-Publikum nun zugänglich. Miyashitas Dissertation ist die erste um- fassende kunsthistorische Untersuchung des Themas. In sechs Kapiteln unter- zieht der Autor die faszinierenden und in ihrer Dimension für viele überraschende Beziehung zwischen Paul Klee und den Surrealisten einer eingehenden, detail- lierten Analyse und untersucht auch die Vorgeschichte mit Klees Verbindung zu Dada sowie in der Textanalyse von Däubler, Hausenstein, Jollos, Wedderkop und Zahn Quellen, die für die Klee-Rezeption der Surrealisten von grosser Bedeutung waren. Miyashitas Untersuchung klärt eine Reihe von Mutmassungen und Missverständnissen, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Literatur zum Thema kursierten. Sie stellte auch für das Team im Zentrum Paul Klee, das seit 2015 mit der Erarbeitung der Publikation zu der Ausstellung Paul Klee und die Surrealisten (Zentrum Paul Klee, 18. November 2016 - 12. März 2017) beschäftigt ist, eine Forschungsgrundlage von unschätzbarem Wert dar.
»Makoto Miyashita erweist sich, wie er selbst einmal sagt, als ein Mann des Details, das heisst als ein Forscher, der durch penible Recherche aller (oder fast aller) bekannt gewordenen Dokumente seine Argumentation aufbaut«, schreibt Gottfried Boehm anerkennend in seinem Dissertationsgutachten. Und sein Fazit, dem wir nur beipflichten können, lautete: »Es ist deutlich geworden, dass es sich um eine wissenschaftlich wohl begründete Studie handelt, die mit grösster Akribie die Quellen, aber nicht weniger auch die Forschungslage sichtet und auswertet. Die Klee-Forschung, das ist zu verzeichnen, hat mittlerweile einen Grad der Durcharbeitung erreicht, der grosse, neue Würfe schwer macht. Umso mehr ist zu würdigen, dass es MM gelungen ist, in geduldiger Arbeit gleichsam in wissenschaftlicher Mosaiktechnik ans Ziel zu kommen, eine Technik, die – wie man weiss – auch zu scharfen Bildern führen kann. Ein solches ist MM gelungen. Es ist eine Studie, der das Verdienst zukommt, das Thema Klee/Surrealismus bis auf weiteres geklärt zu haben.«
Unser Dank gilt insbesondere Kaoru Miyashita für ihr Wohlwollen bei der Veröffentlichung der Doktorarbeit ihres leider viel zu früh verstorbenen Mannes. Bedanken möchten wir uns auch bei sei- nem Doktorvater Prof. em. Dr. Gottfried Boehm sowie Prof. em. Fujio Maeda – Klee-Forscher und Mentor Miyashitas in Japan. Beide haben den digitalen Reprint unterstützt.
Michael Baumgartner, Direktor Sammlung und Kunst, Zentrum Paul Klee
Autorreferat (Makoto Miyashita)
Meine Dissertation versucht, anhand einer Vielzahl veröffentlichter wie unveröffentlichter Quellen nachzuvollziehen, wie Paul Klee bis 1931 in Deutschland und Frankreich zum Surrealismus in Beziehung gesetzt wurde. Seit der Nachkriegszeit hat man an Klee stets zwei Seiten gewürdigt: die des überaus intellektuellen »Formmeisters» und eine »surreale«. Meine These ist, dass sich Klees Charakterisierung als »Surrealist« bereits Ende der 1920er Jahre in Deutschland durchsetzte. Zu diesem Ergebnis komme ich nicht, indem ich Klee und den Surrealismus hinsichtlich theoretischer bzw. bildnerischer Ansätze vergleiche. Vielmehr konzentriere ich mich darauf, wie Klee durch die französischen Surrealisten und die deutschen Kunstvermittler in Form von Ausstellungen und Publikationen positioniert wurde. Zwar gehe ich gelegentlich auf einzelne Bilder und Verfahren ein, doch untersuche ich vor allem, welche diskursive Wirkung die Auswahl von Exponaten und Abbildungen im Verhältnis zu den jeweiligen Texten entfaltete. In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich auch mit der Identifizierung einzelner, in den Katalogen genannter Werke.
Um zu klären, wie die Pariser Surrealisten überhaupt mit Klees Bildern in Berührung kamen, stelle ich zunächst klar, dass den drei Dadaisten der ersten Stunde – Tzara, Ball und Arp Klees Name geläufig war. Von einem surrealistischen Klee-Bild ist in ihren Schriften noch nichts zu spüren. Vielmehr verstanden sie ihn als einen expressionistischen Künstler. Die von Tzara edierte Dada-Anthologie (1919), in der ein einziges seiner Werke abgebildet ist, brachte ihn jedoch zu einem äußerst frühen Zeitpunkt mit den späteren Surrealisten in Verbindung. Offenbar war sie der Auslöser dafür, dass die Surrealisten Klee zur Kenntnis zu nehmen begannen.
Max Ernst hörte über Hans Arp von Klee und suchte ihn im September 1919 in München auf. Ich mache deutlich, dass Ernsts eigentliches Ziel bei diesem Aufenthalt eine Begegnung mit Klee war, was von der Forschung bislang weitgehend übersehen wurde – ebenso wie die Tatsache, dass sich die Beziehung zwischen Klee und Ernst bis mindestens 1923 erstreckte, wie Briefe zeigen. Durch Ernst müssen die Pariser Surrealisten die Monographie von Wilhelm Hausenstein Kairuan oder eine Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters (1921) kennengelernt haben, d.h., durch deren Abbildungen mehr als durch den Text selbst bereits vor 1923 mit Klees Arbeiten in Berührung gekommen sein. Bretons berühmte Fußnote im Manifest des Surrealismus (1924), in der er Klee als einen Vorläufer würdigt, muss vor diesem Hintergrund verstanden werden.
Die surrealistische Klee-Rezeption, die sich ab Mitte der 1920er Jahre entfaltete, war keineswegs monolith (siehe Soupault). Tendenziell stützte sie sich aber auf deutschsprachige, bereits um 1920 erschienene Texte. Die Surrealisten rezipierten damit die poetischen Deutungen, die Klee im Gefolge der deutschen Romantik und des deutschen Expressionismus ansiedelten (wie Däubler, Zahn, Hausenstein) und zogen diese den sachlichen, stilgeschichtlichen Analysen vor, die Klee als Bauhaus-Meister und konstruktivistischen Künstler interpretierten (z.B. von Wedderkop, Grohmann). Das lag zum einen daran, dass sich die Surrealisten als Erben der deutschen Romantik verstanden. Zum anderen waren die genannten Texte schon relativ früh verfügbar. Als Grohman 1923/24 begann, auf eine Revision dieses Klee-Verständnisses zu drängen, waren die Vermittler Ernst, Tzara und Arp schon zu lange in Paris, um seinen Protest wahrzunehmen.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre lancierte das von Westheim geführte Kunstblatt Klee in Deutschland als Pionier des Surrealismus. Das Bild eines betont »jenseitigen« Klee (Goltz, Zahn) sollte in diesem Zusammenhang noch einmal aufleben. Selbst Grohmann, der Klees konstruktivistische Seite betonte, war letztlich nicht imstande, sich von den »poetischen« Fesseln zu befreien, wie sein Pariser Klee-Bildband (1929) zeigt, der den Neigungen der Surrealisten entgegenkam, obwohl er diese seit seinem ersten Artikel von 1924 konsequent kritisiert hatte. Für die erneute »poetische« Interpretation ab 1925 waren Breton, Ernst und die anderen Surrealisten die treibenden Kräfte, aber das Phänomen besenränkte sich nicht auf Paris.
In Form von Exkursen lege ich dar, wie das spezifische Verhältnis von Gegenständlichem und Abstraktem bei Klee sich zum einen im Kontext der damaligen Kunstkritik darstellte und zum anderen von Klee selbst in seiner Formenlehre verstanden wurde. Wenn Klee und der Surrealismus zueinander in Beziehung gesetzt werden, geht es immer auch um Fragen gegenständlicher und realistischer Darstellung. In den 1920er Jahren diskutiert man allerdings eine über die Abstraktion erreichte Gegenständlichkeit. Bei Klee ist sie Bestandteil eines provokanten Strukturgefüges, das über den Blick des Betrachters Mehrdeutigkeiten in Gang setzt.
Klee selbst hat sich nie als Surrealist betrachtet, und auch seine Werke lassen sich mit den surrealistischen Grundbegriffen des Automatismus und des Unbewussten kaum fassen, aber so wie der Surrealismus hegte auch er ein Misstrauen gegen die sichtbare Wirklichkeit. In der Diskussion um den Realismus bzw. »neuen Naturalismus«, der Klee-Auslegung durch zeitgenössische Kunstkritiker und Klees eigener Formenlehre ging es gleichermaßen um die Schaffung einer neuen Wirklichkeit. Während die Neue Sachlichkeit und viele Surrealisten durch möglichst realistische Darstellungen gerade die Unwirklichkeit des jeweiligen Gegenstands zu betonen suchten, ist das Gegenständliche in den Werken Klees keineswegs als realistisch zu bezeichnen oder mit einer Haltung radikaler Wirklichkeitsverneinung zu verbinden.
Ein dritter Exkurs versucht, Klees musikwissenschaftliche Äußerungen in einem direkten Zusammenhang mit seinem Wirken als Maler zu betrachten, insbesondere den polyphonen Element in seinen Bildern sowie der Aktivierung des Betrachters.
Anschließend richtet sich das Augenmerk wieder auf die Pariser Surrealisten. Im Zentrum stehen das Heft 3 von La révolution surréaliste (1925) sowie Louis Aragon und Antonin Artaud als dessen maßgebliche Herausgeber. Wie sich zeigt, stand Aragons Bitte an Klee um Abbildungen nicht direkt mit dem Konzept des Surrealismus im Zusammenhang, sondern resultierte aus seiner Bewunderung für den Maler, und Artaud zielte nicht auf eine grundsätzliche Erörterung des Verhältnisses von Surrealismus und bildender Kunst, sondern auf eine Kritik des europäisch-christlichen Denkens. Doch gehen Klees Bilder eine interessante Beziehung mit den Texten ein, geradezu gemäß dem Prinzip des dépaysement. So spricht das Heft 3 dafür, dass die Surrealisten noch vor Klees erster Pariser Einzelausstellung 1925 intuitiv die vielfältigen Potenziale seiner Werke erkannt hatten. Sie schätzten besonders seine Zeichnungen und Aquarelle, u.a. aufgrund ihrer Verwandtschaft mit einem poetischen, »automatischen« Schreiben. Die Pariser Klee-Ausstellungen ab 1925 boten folglich Graphisches und Gegenständliches. Auch Breton fand »Surreales« bei Klee vor allem in dessen Linienschrift. Im Weiteren zeigte er sich durch Klees Formenlehre beeinflusst, wenn er vom Sehen des Unsichtbaren und vom Assoziationsreichtum der Linien und Farben handelte. Beide verband darüber hinaus, dass sie den Traum, den Zufall und die Musik konzeptionell Schätzten. Bretons späteres Schweigen lässt sich von daher nur mit politisch-ideologischen, nicht mit ästhetisch-künstlerischen Vorbehalten erklären.
Anlässlich der ersten Pariser Einzelausstellung 1925 begann die Beschäftigung mit Klee auch im deutschsprachigen Raum. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Rezensionen im Kunstblatt und im Cicerone. Das Kunstblatt zählte die Neue Sachlichkeit, den Pariser Surrealismus, Max Ernst und Paul Klee zu ein und derselben Strömung. Daraus sollte sich schon bald die Formel von Klee als Surrealist und von Deutschland als Heimstatt des Surrealismus ergeben. Der Katalog zur Klee-Ausstellung in der Galerie Flechtheim Berlin brachte es 1928 in seinem Vorwort auf den Punkt: Der eigentliche Schöpfer des Surrealismus ist aber Paul Klee. Bereits die poetischen Klee-Auslegungen ab 1919 hatten den Maler mit der Gotik, dem Expressionismus und im weiteren Sinne mit den »Deutschen« auf schematische Weise gleichgesetzt (Jollos). Und sogar die französischen Surrealisten betrachteten Klees Arbeiten als Manifestationen einer typisch deutschen Mentalität, die für technische Raffinesse nichts übrig hat. Sowohl das Kunstblatt als auch die ebenfalls in Deutschland bekannten Cahiers d'art setzten den Surrealismus mit der deutschen Romantik und dem deutschen Expressionismus sowie Klee in einen engen Zusammenhang.
Welchen Einfluss die Entwicklung des Pariser Surrealismus auf das Klee-Verständnis in Deutschland ausübte, zeige ich anhand von Carl Einsteins Klee-Artikeln für die Propyläen Kunstgeschichte (1926 und 1931). Darin traf die damalige deutsche Klee-Kritik mit der Klee-Begeisterung des Pariser Surrealismus exemplarisch zusammen. Klee war nahezu der einzige Maler aus dem deutschsprachigen Raum, den Einstein mit den Pariser Surrealismus für vergleichbar hielt. Er verstand den Surrealismus als eine Bewegung, die die typisch deutsche Kunst der Romantik fortführte, was sich schon bald mit dem deutschen Nationalismus und jenem kunstkritischen Schema verbinden sollte, wonach Klee ein Vorreiter des Surrealismus und der Surrealismus die Auferstehung der deutschen Romantik sei. Auch Uhde
betrachtete Klees Werke als typisch deutsch, d.h. im Gefolge von Gotik, Barock und Romantik: Für ihn waren sie Manifestationen des Wesentlichen. Die Ansicht, Klee werde von den Surrealisten als Wiederbeleber der Gotik gefeiert, sei die wahre Heimstätte des Surrealismus und repräsentiere das Vordringen von etwas Deutschem nach Frankreich, sollte schon bald in die deutsche Kunstkritik eingehen und um 1930 zu einem stark politisch gefärbten Klee-Bild führen, welches die vermeintliche Überlegenheit der deutschen Kunst gegenüber der französischen behauptete.
Bei frankophilen Galeristen wie Flechtheim hatte die Rede von Klee als Begründer des Surrealismus aber nicht direkt mit Nationalismus zu tun. Hier wirkte vielmehr die Absicht, Klee einem deutschen Publikum möglichst wirkungsvoll nahezubringen. Dass Flechtheim selbst nationalistisch gestimmt war, darf bezweifelt werden, doch zweifellos appellierte er mit seinem Klee-Bild an den deutschen Nationalismus – mit Erfolg, wie die Reaktionen auf die Klee-Ausstellung in seiner Galerie (1929) belegen. Der Slogan von Klee als »eigentlichem Schöpfer des Surrealismus« verbreitete sich danach im ganzen deutschsprachigen Raum.
Die Bewertung Paul Klees spiegelt nahezu kontrapunktisch jene beiden Seiten wider, die die Werke dieses Malers selbst auszeichnen und so reichhaltig machen: die konstruktivistische des Bauhausmeisters und die poetisch-metaphysische, die die Surrealisten sahen. Um 1930 überwog die Vorstellung vom Surrealisten Klee, obwohl dieser am Bauhaus tätig war. Viele Wissenschaftler, die sich mit dem Verhältnis Klees zum Surrealismus auseinandergesetzt haben, stehen unter dem starken Eindruck surrealistischer Äußerungen und sehen daher den Entstehungs- und Entwicklungsort dieser Vorstellung ausschließlich in Paris. Demgegenüber habe ich gezeigt, dass sie vielmehr in Deutschland etabliert wurde und zwar in Form einer bewussten Manipulation durch Kunstkritiker, die am surrealistischen Klee-Bild anknüpften, um es möglichst wirkungsvoll nach Deutschland zu überführen. Diese Vorstellung von Klee wich stark von Bretons Charakterisierung des Malers als Wegbereiter des Surrealismus und auch von den poetischen Reinterpretationen anderer Surrealisten ab. Sie erfüllte eine ganz andere Rolle. In einer Zeit, da der Expressionismus für bankrott erklärt worden war, die Neue Sachlichkeit aber keine rechte Akzeptanz fand, hoffte man in der deutschen Öffentlichkeit auf Klee als Mittel im Kampf gegen die kulturelle Überlegenheit Frankreichs. Anders als bei den Nationalsozialisten handelte es sich bei Hausenstein, Westheim, Uhde und den anderen um den verzweifelten Versuch, der deutsche Kunst neue Wege zu erschließen.
Klee hat nie abgestritten, ein Surrealist zu sein, wohl auch aus kommerziellen Gründen. Anders als den Surrealisten war es ihm selbst offenbar gleichgültig, wie seine Arbeiten ausgelegt wurden. Ihm lag mehr daran, dass sie möglichst vielfältig interpretiert wurden und dass er davon leben konnte. Darüber hinaus unterscheidet ihn von den Surrealisten seine Gewichtung der Prozessualität und der Aktivität des Betrachters. Zwar lobten die Surrealisten ihn von ihrer Warte aus, aber er selbst wollte nicht das »Was« seiner Arbeiten, sondern deren »Wie«, also den Prozess der Bildentstehung, verstanden sehen. In verschiedener Hinsicht erweist er sich als Grenzgänger, dessen Bilder sich der Mehrdeutigkeit verschreiben und sich nicht auf einen einzigen Diskurs – z.B. den des Surrealismus – zurückführen lassen. Die bewussten Leerstellen und die »kontrollierte Zufälligkeit« erweisen sich als bessere Ansatzpunkte, um Klee beispielsweise mit Max Ernst zu vergleichen.
(abgedruckt in: Makoto Miyashita, Paul Klee und der Surrealismus 1919–1931, Tokyo 2008)