ZWITSCHER-MASCHINE

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»Vater und Sohn« – das verschollene Frühwerk von Paul Klee?

Walther Fuchs

SUMMARY

A photograph from the estate of Sasha Morgenthaler has recently come to light in which a previously unknown early work by Paul Klee can be seen. [1] Subsequently the early work is here tentatively assigned to the composition called Father and Son that Klee mentions several times in his correspondence with Lily. [2] For Klee this study, which can be dated to the autumn of 1902, anticipates the group of inventions. The composition was evidently influenced by Klee’s profound knowledge of human anatomy and studies of form in the manner of Hodler. Klee reworked the version of Father and Son in different ways but none of them satisfied Klee’s desire for successful visual representation of the ideal fantasy state. He therefore destroyed the different variants of the subject Father and Son, so that the photographic reproduction is all that has survived. In the photograph taken in the artist’s studio and his letters to Lily, Klee for the first time represents the artist’s studio as an interpretation of the artistic myth of creation.


»In meinem kleinen Arbeitsraum« (...) im »November 1902« (Paul Klee, 1902)

Nach drei Jahren Ausbildung in München und einer anschliessenden Studienreise nach Italien zieht sich Klee im Sommer 1902 zum Selbststudium in sein Elternhaus nach Bern zurück. [3] Hier entstehen die ersten für ihn gültigen künstlerischen Arbeiten wie die Inventionen, eine Reihe von Radierungen, grotesk-humoristischen Zeichnungen, Hinterglasmalereien und einige Gemälde. Klees »kleiner Arbeitsraum«, den er seiner Verlobten Lily in einem Brief mit Skizze ausführlich beschreibt, liegt im Dachgeschoss des Familiensitzes am Obstbergweg 6 (Abb. 1). Eine neu entdeckte Fotografie gewährt einen fotografischen Einblick in das Atelier von Klee (Abb. 2). 

Abb. 1: Brief von Paul Klee an Lily Stumpf mit Atelier-Plan, 10.08.1902, Zentrum Paul Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Abb. 2: Doppelseite aus dem Fotoalbum »Juli 1915« von Sasha Morgenthaler; rechts: Paul Klee in seinem Atelier am Obstbergweg 6, Bern, Herbst 1902; links: Lily Stumpf, Obstbergweg 6, Bern, August 1906
© Nachlass Morgenthaler Thun, Steffan Biffiger.
Anlässlich ihres Studienaufenthalts 1915 in München fertigte Sasha Morgenthaler für Klee, der ein Freund ihrer Familie war, eine Abschrift seines Oeuvrekataloges an. In diesem Zusammenhang ist die besagte Fotografie wohl in ihren Besitz gelangt, die sie mit weiteren Fotografien von Lily in das mit »Juli 1915« beschriftete Fotoalbum einklebte. 

Der junge Klee ist darauf im Profil wiedergegeben, mit einem gerahmten Bild auf einer Staffelei und weiteren kleinformatigen Arbeiten, die an der Wand aufgehängt sind. Für die Fotografie hat sich Klee auf einen Stuhl gesetzt, auf dem sonst seine »Paletten ruhen« (vgl. Beschriftung Skizze). Er blickt aus dem Fenster, wie man anhand der Skizze rekonstruieren kann. Der Bildausschnitt mit dem Porträt von Klee ist bereits bekannt (Abb. 3). Neu ist der übrige Teil der Fotografie, vor allem das noch unbekannte Bild auf der Staffelei. Die Fotografie ist auf Herbst 1902 zu datieren, denn der Abzug ist auf der Rückseite von Klee eigenhändig mit »November 1902« beschriftet (Abb. 4).

Abb. 3: Porträtfotografie von Paul Klee, »November 1902« (Datierung auf der Rückseite s. Abb. 4), Zentrum Paul Klee, Schenkung Familie Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv. Die Porträtfotografie von Paul Klee ist erstmals abgebildet in: Felix Klee, Paul Klee: Leben und Werk in Dokumenten, ausgewählt aus den nachgelassenen Aufzeichnungen und den unveröffentlichten Briefen, 1960. Teilansicht der Fotografie aus dem Album von Sasha Morgenthaler.

Abb. 4: Rückseite der Porträtfotografie von Paul Klee, Zentrum Paul Klee, Schenkung Familie Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Diese Datierung wird bestätigt durch eine weitere Fotografie von Klee, die kurz zuvor in Rom entstanden ist und den jungen Klee mit demselben Vollbart zeigt: »Wie ein Südländer, unendlich verfeinert u. vergeistigt mit einem schwarzen Vollbart (...)«, beschrieb Lily das neue Erscheinungsbild ihres Verlobten nach seiner Rückkehr aus Italien, das er in Bern vorübergehend beibehalten hat (Abb. 5). [4]

Abb. 5: Paul Klee und Hermann Haller in Rom, 1902, Fotograf: Karl Schmoll von Eisenwerth
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

In Thematik und Komposition offenbart die Fotografie eine enge Übereinstimmung mit einer zeitgleich entstandenen Aufnahme von Paul Klee aus dem Jahr 1902/03, die sein Freund Hans Bloesch in seinem Arbeitszimmer fotografisch wiedergibt (Abb. 6). [5] Beide, Schriftsteller und Maler, sind in ihren jeweiligen Arbeitsräumen dargestellt, und sie nehmen dabei dieselbe Pose ein. Der Künstler in Profilansicht blickt gedankenversunken in die Ferne (Abb. 7). Diese Übereinstimmung deutet stark auf die kompositorische Autorschaft von Klee hin. [6] Die Aufnahme ist die erste einer Reihe von Fotografien, die Klee im Verlauf seiner späteren Karriere in seinem Atelier zeigen. [7]

Abb. 6: Hans Bloesch, 1902/03, Paul Klee, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee, Fotograf: Paul Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Abb. 7: Paul Klee in seinem Atelier am Obstbergweg 6 Bern, Herbst 1902, mit der mutmasslichen Komposition Vater und Sohn
© Nachlass Morgenthaler Thun

Viele Varianten des Themas »Vater u. Sohn«

Auf dem von Klee inszenierten fotografischen Selbstporträt ist ein Werk zu sehen, das bisher als unbekannt gilt. Wiedergegeben sind zwei Männer, Arm in Arm, dargestellt in Rückenansicht und bekleidet in antiken Gewändern (Abb. 8). Obwohl das Bild gerahmt ist, glaubt man unfertige Stellen im Bildhintergrund zu erkennen. Stilistisch und bildmotivisch ist die Komposition den wenigen Werken zuzuordnen, die in Zusammenhang mit der Italienreise stehen und die Klee in seinem handschriftlich geführten Oeuvrekatalog für die Jahre 1901 und 1902 aufgelistet hat. [8]

Abb. 8: Ausschnitt aus der Fotografie Paul Klee in seinem Atelier am Obstbergweg 6 Bern, Herbst 1902, mit der mutmasslichen Komposition Vater und Sohn
© Nachlass Morgenthaler Thun

Hinweise für die Bildinterpretation sind der Korrespondenz mit Lily und den revidierten Tagebüchern von Klee zu entnehmen, die visuell und chronologisch mit der Datierung der Fotografie und dem abgebildeten Werk übereinstimmen könnten.
Klee erwähnt im Januar 1903 in einem Brief an Lily mehrfach ein Werk, das er »Vater und Sohn« nennt: » (...) Die Composition Vater und Sohn leidet, abgesehen davon, dass sie (wie Haller sagen würde) vollständig aus dem hohlen Ranzen geholt worden ist, an manchen Fehlern. Die Figuren sind isoliert dadurch, daß an ihnen das Humoristische weiter fortgeschritten ist als an den übrigen Gegenständen. Die Felsen müßten analog ganz anders behandelt werden, auch humoristisch. Ebenfalls die überaus zahm geplanten Bäume. Das Ganze entspricht überhaupt gar nicht dem Zustand, den es zuvor in meiner Phantasie eingenommen hatte; sondern müßte, um etwas von der Frische dieses ‚idealen‘ Zustandes zu erhalten, entschieden umkomponiert und ganz neu angefangen werden. Vielleicht geschieht es in der kommenden Zeit. Dem Phlegmatiker ist folgendes ein Trost: Wenn ein Bild so ausgeführt wäre, wie es gedacht worden war, so hätte man es ja mit einem unerhörten Meisterwerk zu thun! O Schmeichelstimme des Phlegmas!« [9]  Das Bildmotiv auf der Fotografie und der Textinhalt stimmen in wesentlichen Teilen überein: Zwei männliche Figuren sind isoliert vor neutralem Hintergrund (Felsen?) dargestellt.
Bei der fotografierten Komposition könnte es sich womöglich um eine noch nicht vollendete Variante der Serie/Werkgruppe Vater und Sohn handeln. [10] Denn von der Komposition muss es mehrere »Varianten« gegeben haben, wie einem redigierten Tagebucheintrag vom Januar 1903 zu entnehmen ist: [11] »Viele Varianten des Themas Vater u. Sohn. Ein Vater mit seinem Sohn. Ein/ Vater durch seinen Sohn. Ein Vater angesichts seines Sohnes. Ein Vater stolz/ auf seinen Sohn. Ein Vater segnet seinen Sohn. Alles dies hab ich deutlich/ dargestellt, aber leider wieder vernichtet. Es blieben nur die Titel erhalten.« [12]  Es liegt deshalb nahe, dass Klee eine der Varianten von Vater und Sohn auf seiner inszenierten Atelierfotografie präsentiert. Es ist das einzige in der  Korrespondenz mit Lily erwähnte Werke, das mit dem Bildmotive auf der ungefähr zur selben Zeit entstandenen Fotografie übereinstimmt. [13] Die wohl mehrfach überarbeitete Komposition Vater und Sohn war Klee offenbar dann nicht gut genug, sodass er das »missglückte« Werk Ende Januar 1903 zerstörte. [14]

»Plan, in Bern ganz gründlich Anatomie zu lernen wie ein Mediziner. Wenn ich die weiss, kann ich alles.« (Paul Klee, 1901)

Wenn Klee in einem Brief an Lily (7. Januar 1903) die Komposition Vater und Sohn als Werk ausweist, das vollständig »aus dem hohlen Ranzen«, sprich aus dem hohlen Bauch entstanden sei, dann zeugt die Körperdarstellung der mutmasslichen Komposition Vater und Sohn doch von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Anatomie des menschlichen Körpers. Diese geht auf eine Kritik von Franz von Stuck zurück, der beim Eintrittsgespräch für die Münchener Kunstakademie Klees fehlenden Kenntnisse in der Anatomie bemängelte: »Stuck hat mich hauptsächlich auf meine total fehlende Anatomie aufmerksam gemacht (...)«. [15]

Klee verlässt die Münchner Kunstakademie ohne Abschluss. Er bildet sich hauptsächlich durch Selbststudium und einen halbjährigen Aufenthalt in Italien weiter. Dort reift in ihm der Entschluss, sich in Bern so gründliche Kenntnisse der Anatomie wie ein Arzt zu verschaffen. Klee schreibt über das Wintersemester 1902/03 ins Tagebuch: »Jeden Morgen arbeitete ich von ½ 9 bis ½ 11 Uhr im Anatomiesaal. Am Samstag um 11 Uhr liest der Professor Strasser für Künstler. (Was für Künstler!) Und am Mittwoch, Donnerstag und Freitag ist Abendakt im Kornhaus. Da excellieren die Herren Born, Boss, Colombi, Link und a. m. Sie hodlern alle mehr oder weniger. Die Modelle sind à la Matte.« [16]

Abb. 8: Anonym, Seziersaal des Anatomischen Instituts der Universität Bern, um 1900, Medizinhistorisches Institut der Universität Bern
© img.unibe.ch

Abb. 9: Paul Klee, Anatomische Zeichnung der Oberarmmuskulatur, von hinten, 1902/03, Bleistift und Aquarell auf Papier, 17,2 x 31,4 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Der kunstbegeisterte Professor Hans Strasser erlaubt Klee den Besuch der Vorlesung über plastische Anatomie und sogar den Zugang zu den täglichen Präparierübungen im Seziersaal (Abb. 8). Paul Klee vermittelt seiner Verlobten darüber sehr lebendige Einblicke: »Der Seciersaal macht einen comfortablen Eindruck (das Gebäude ist neu), scheint doch für 170 Studenten (und hauptsächlich Studentinnen) zu kurz. Es lagen circa 12 oder mehr Leichen in zwei Reihen geordnet, eine schrecklicher als die andere, so daß sie mir nachts eine um die andere im Traum vorkamen. Beim zweiten Mal war ich indessen bereits akklimatisiert und hatte auch Augen für das Leben, zu meiner Scham und Schande zum Teil sogar für das weibliche Leben. So schaute ich frech einigen hübschen Russinnen bei ihrer interessanten, aber nicht normalen Beschäftigung zu. Doch ich übertreibe, hübsch sind sie eigentlich nicht, die meisten sind sogar noch unappetitlicher als die lieben Toten in ihren Armen.« [17]

Seiner Verlobten Lily Stumpf beschreibt Klee die Gründlichkeit von Strassers Unterricht: »In der Anatomie haben wir uns die ganze verflossene Woche mit dem Arm beschäftigt, was das Schwerste ist, besonders Ellenbogen, Unterarm und Handgelenk (Abb. 9). Der Professor [Strasser] verwendete schon zwei Vorträge darauf, nächsten Samstag wird wohl noch die Hand dran kommen.« [18]  Klee hat sieben anatomische Zeichnungen und einen Knabenakt mit drei verschiedenen Armhaltungen aufbewahrt. Für ihn hatten diese Studien, die offenbar über längere Zeit an einer Wand seines Zimmers hängten, vorbereitenden Charakter für ein grösser angelegtes Projekt, für das der menschliche Körper zum zentralen Gegenstand werden sollte: die Inventionen. [19] Ein Vergleich mit einer dieser Arbeiten, dem Studienblatt mit drei verschiedenen Armhaltungen, legt nahe, dass Klee bereits in die fotografisch dokumentierte mutmassliche Komposition Vater und Sohn seine vertieften Kenntnisse in Akt und Anatomie einfliessen liess. Trotz der etwas unscharfen Fotografie lässt sich eine deutliche Übereinstimmung in der bildlichen Darstellung der Arme feststellen (Abb. 10, Abb. 11). Oberarm, Unterarm und Hand der beiden Männer Vater und Sohn sind nicht maskulin-muskulös wiedergegeben, sondern knabenhaft schlank, karikaturistisch überzeichnet.

Abb. 10: Paul Klee, [Studienblatt mit drei verschiedenen Armhaltungen], 1903, Bleistift auf Papier, 27,8 x 37 cm, Zentrum Paul Klee, Bern. Bezeichnet unten rechts mit Bleistift: »03« 
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Abb. 11: Obere Extremitäten der Vater-Figur aus Vater und Sohn (Ausschnitt aus: Paul Klee in seinem Atelier, Bern, Herbst 1902)
© Nachlass Morgenthaler Thun

 

»Formstudien im Hodlerschen Sinn« [Paul Klee, Hausenstein I, 1902]

Schon als Klee noch die private Malschule von Heinrich Knirr besuchte, scheute er sich nicht, Elemente der Karikatur in seine seriöse Akademiezeichnungen einfliessen zu lassen (Abb. 12). [20]

Knirr sagte dazu: »Herr Klee, Sie haben die Mittel etwas ganz Außerordentliches zu werden, nur müssen Sie mir folgen und fleißig sein. Ich bin nicht zufrieden, wenn Sie mir einen Akt mit richtigen Proportionen herausbringen. Ich will, dass Sie das Eigenartige jedes Aktes bringen. Sehen Sie diesen Akt (weiblichen Akt) an. Die untere Partie ist beinah’ männlich, nicht wahr? (...) « [21]
 

Abb. 12: Paul Klee, ohne Titel [ein berüchtigtes Mannweib], 1899, Knirrblatt 61, Bleistift auf Papier, Zentrum Paul Klee, Bern © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Die Auseinandersetzung mit der expressiven Anatomie des menschlichen Körpers setzte Klee in der Folge fort. In Rom begeisterte er sich für die »Aktkarikaturen« Rodins [22] und in Bernbewunderte er kurze Zeit später die expressiven Körperdarstellungen Hodlers. [23] Im Mai 1902 schaute er sich mit seinem Freund, dem Neurologen Fritz Lotmar, Gemälde von Hodler im Kunstmuseum Bern begeistert an [24] und er betrieb in November 1902, also zeitgleich zur Entstehung der Komposition Vater und Sohn, »Formstudien im Hodlerschen Sinn«, am Abendakt im Kornhaus beim »Hodlerschüler [Eduard] Boss«. [25]
Hodler war zwar für Klee zu diesem Zeitpunkt bedeutend, doch kein Werk von Hodler kann als ikonographischer Bezugspunkt für das Werk Vater und Sohn in Betracht gezogen werden. [26] Stattdessen sind es Hodlers expressive Körperdarstellungen in einer symbolistischen Landschaft, die Klee in der Entwicklung seiner künstlerischen Ausdrucksform zu interessieren schienen, bevor er »die anatomische Ausdruckssteigerung seiner nackten Figuren zur Formulierung bissiger, ja bitterer satirischer Themen im Miniaturformat monochromer Radierungen [verwandte].« [27]

»Mein erstes brauchbares Opus ist die Radierung Jungfrau im Baum« (Paul Klee, 1903)

Offenbar entsprach die Komposition Vater und Sohn noch nicht einer geglückten bildnerischen Wiedergabe eines ‚idealen‘ Fantasiezustands, wie aus dem oben zitierten Brief an Lily hervorgeht. [28]  Erst mit der Radierung Jungfrau (träumend), 1903, 2 (auch unter dem Titel Jungfrau im Baum bekannt) begann – nach der Einschätzung des Künstlers – seine Laufbahn als Ausstellungskünstler (Abb. 13).

Abb. 13: Paul Klee, Jungfrau (träumend), 1903, 2, Radierung, 23.6 x 29.8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Klee liess für das Jahr 1902 nur vier Werke gelten, die er in seinem handschriftlich geführten Oeuvrekatalog für die Jahre 1902 auflistete: Windspielartiges Tier, 1902, 1, Puppenartige Dame, 1902, 2 und Zuhälterartiger Athlet, 1902, 3. Hinzu kommen noch die nicht verzeichneten Akt- und Anatomiezeichnungen sowie die Illustrationen aus dem Buchprojekt mit Hans Bloesch. Alle übrigen Werke des Jahres 1902, die in der Korrespondenz mit Lily erwähnt sind, wurden von Klee offenbar vernichtet (Abb. 14), worunter auch die Komposition Vater und Sohn.

 

Abb. 14: Ein weiteres Werk von Klee, das nicht mehr erhalten ist. Trotz der Unschärfe der Fotografie ist eine Figur mit erhobener Hand zu erkennen. Die Figur zeigt gewisse Übereinstimmungen mit der Bleistift und Aquarell ZeichnungZuhälterartiger Athlet, 1902, 3 und entsprechenden Zeichnungen im »Buch« von Bloesch. Ausschnitt aus Paul Klee in seinem Atelier am Obstbergweg 6 Bern, Herbst 1902
© Nachlass Morgenthaler Thun

Klee äusserte gegenüber seiner Verlobten, dass die Radierung Jungfrau (träumend) auf einen älteren Entwurf zurückgehe und die weibliche nackte Figur »ja nicht nach dem Modell«, sondern nach dem »Gefühl« gezeichnet sei; auf die möglichst getreue Wiedergabe des Sichtbaren komme es ihm nicht an, da sonst die »Witzlaune« dahin sei.[29] Die intensiven Auseinandersetzung mit dem Modell, konkret, mit der Anatomie des menschlichen Körpers sowie das schulmäßige Aktzeichnen und das Werk von Ferdinand Hodler, bildeten wichtige Grundlagen für die künstlerische Produktion der Werkgruppe der Inventionen und der kurz zuvor entstandenen Komposition Vater und Sohn. Klee stellt fest »Je weniger Freiheiten man sich beim schulmäßigen Aktzeichnen nehme, desto mehr hat man dann beim künstlichen Produzieren. Vormittags beim Buben [Aktzeichnen] bin ich bescheiden, wie ein Schulmeister, nachmittags lasse ich alles springen und tanzen. (...)«

Die von Klee beschriebene Trennung zwischen Naturabbildung und Phantasiewelten ist als fliessend zu betrachten, wie ein Vergleich mit der bereits besprochenen Zeichnung des Bubenarms (Abb. 10) nahelegt. Wie bereits in der Komposition Vater und Sohn, orientiert sich Klee auch in der Darstellung Jungfrau (träumend), 1903, 2, an Akt- und Anatomiezeichnungen aus seinem Bestand. [30]  Sein Bestreben war es offenbar, ohne direkte Modellvorlage, den »idealen Fantasiezustand« zu einem bestimmten Thema künstlerisch widerzugeben, oder wie es Klee in bereits erwähnten Brief an Lily ausdrückt: »Es muss nur Geist (Liniengeist) und (Gedanken) Witz darin sein. Und dazu kann man an keinem Modell hängen, sonst ist die Witzlaune bald dahin, sondern hier ist der Moment Gott«. [31]

Mit der Darstellung der reinen »Witzlaune«, in der Form der bildnerischen Satire, schuf sich Klee nach der Italienreise ein Mittel, Inhalt und Form nach eigenen Vorstellungen zu erfinden. Die Komposition Vater und Sohn kann als zentraler, jedoch noch gescheiterter Versuch dieser neuen bildnerischen Ausdrucksweise betrachtet werden, die Klee rückblickend erst in der Werkgruppe der Inventionen als gelungen und  voll gültig erachtete.


Fussnoten

1    Vgl. Eva Wiederkehr Sladeczek, Eine Künstlerfreundschaft. Sasha Morgenthaler von Sinner als Privatschülerin und "Secretär" von Paul Klee, in: Ausst.-Kat. Der Kontinent Morgenthaler. Eine Künstlerfamilie und ihr Freundeskreis, Kunstmuseum Thun, 5.9.-22.11.2015, S. 37-42. 

2    Osamu Okuda äusserte als erster die Vermutung, dass es sich beim abgebildeten Werk auf (Abb. 2) um das Werk Vater und Sohn von Klee handeln könnte. Ich danke ihm für die freundschaftliche Unterstützung beim Verfassen dieses Texts und W. Kersten für dessen kritische Durchsicht.

3    Vom 19. bis zum 28. Juli 1902 unternimmt Klee eine Reise nach Oberpöcking an den Starnberger See, um dort seine Verlobte Lily zu treffen. Vom 20. bis 30. September 1902 weilt er in München. Vgl. Paul Klee, Tagebücher 1898-1918, textkritische Neuedition, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, bearb. von Wolfgang Kersten, Stuttgart/Teufen 1988, Nr. 447, S. 160. Ab dem 1. November 1902 besucht Klee den Anatomieunterricht bei Hans Strasser (ebd., Nr. 453, S. 161). Im Folgenden zitiert: Klee 1988, Tgb.

4    Vgl. Lily Klee, Lebenserinnerungen, unpubliziertes Manuskript, Bern 1942, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee.

5    »Ich habe auch von Bloesch eine gelungene Photographie gemacht, an seinem Schreibtisch […]. Er geht nächstens auf kurze Zeit nach Paris, um den Rest zu verthun. Wenn er zurückkehrt, ist er ebenso arm wie ich.«. Vgl. Paul Klee, Briefe an die Familie 1893-1940, Bd.1: 1893-1906, Bd. 2: 1907-1940, hrsg. von Felix Klee, Köln 1979, S. 285. Im Folgenden zitiert: Klee 1979, Briefe

6    »Endlich ist Bloesch zurückgekehrt«; gegen-seitige Porträtfotos Paul Klee und Hans Bloesch. Vgl. Klee 1979, S. 280.

7    Vgl. Wolfgang Kersten, Zwischen Geniekult, Kultraum und Werkstatt, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Art in the making 1883-1940, The National Museum of Modern Art, Kyoto, 12.3.-15.5.2011; The National Museum of Modern Art, Tokyo, 31.5-31.7.2011, S. 34-39.

8    Gemäss Wolfgang Kersten wird sich Klee frühestens zwischen Februar 1911 und Frühjahr 1913 dazu entschlossen haben, im Rückblick auf die mehr als zehn Jahre zurückliegende Italienreise, Werke aus seiner nicht registrierten Kunstproduktion in den eigenen Œuvrekatalog aufzunehmen und Teile davon zu vernichten. Nur vier Werke, die Klee selbst in seinem handschriftlich geführten Œuvrekatalog für die Jahre 1901 und 1902 aufgelistet hat, stehen offenkundig im Zusammenhang mit der Italienreise: Schwebende Grazie (im pompejanischen Stil), 1901, 2, Windspielartiges Tier, 1902, 1, Puppenartige Dame, 1902, 2 und Zuhälterartiger Athlet, 1902, 3. Vgl. Wolfgang Kersten, »Für die Nachlass-Sammlung bestimmt«. Strategie zur Gewinnung unsterblichen Ruhms. Von Dürer über Klee bis Beuys, in: Werner Egli, Kurt Schärer (Hrsg.), Erbe, Erbschaft, Vererbung, Zürich 2005, S. 227–241.

9    Vgl. Klee, Briefe an die Familie 1893–1940, Bd. 1: 1893–1906, Bd. 2: 1907-1940, hrsg. von Felix Klee, Köln 1979, S. 301.

10    Klee hat die Komposition Vater und Sohn fotogra-fiert wie aus dem Brief an Lily vom 18. Januar 1903 zu nehmen ist. Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 304.

11    Der Beginn der Reinschrift von Tagebuch III [lässt sich] auf Ende 1918 datieren. Vgl. Paul Klee, Tgb. S. 589.

12    Vgl. Klee 1988, Tgb. Nr. 474, S. 166 und S. 489.

13    Es ist auch das einzige Werk, das während dieser Zeit (November 1902-Januar 1903) mehrfach erwähnt wird. Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 301, S. 304 und S. 306.

14    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 306.

15    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 93 (27. IV. 1900).

16    Vgl. Klee 1988, Tgb., S. 162 (Nr. 456). Zu Klees Anatomieunterricht bei Hans Strasser und zum Aktunterricht im Berner Kornhaus vgl. Walther Fuchs, Von der Menschenanatomie zur Bildanatomie. Anatomisches Institut, Balzerstrasse 2, in: Zentrum Paul Klee (Hrsg.), Mit Klee durch Bern. Spaziergänge in Stadt und Umgebung, Bern 2015, S. 63–65 und Walther Fuchs, Abendakt im Kornhaus: Modelle ganz à la Matte. Kornhaus, Kornhausplatz 18, in: Zentrum Paul Klee (Hrsg.), Mit Klee durch Bern. Spaziergänge in Stadt und Umgebung, Bern 2015, S. 59-62.

17    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 281 (Paul Klee an Lily Stumpf, Bern, 5. November [1902].

18    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 290 (Paul Klee an Lily Stumpf, 7. Dezember 1902).

19    Alle Blätter weisen an den vier Ecken Einstiche und Rostspuren von Reissnägeln auf. Vgl. dazu auch Klee 1979, S. 323 (Paul Klee an Lily Stumpf, 29. April [19]03). 

20    Vgl. Jürgen Glaesemer, Paul Klee. Handzeichnun-gen I. Kindheit bis 1920, Bern 1973, S. 77.

21    Vgl. Paul Klee, Brief von Paul Klee (München) an Hans Bloesch (Bern), 20. November 1898, Burgerbibliothek, Bern, Nachlass Hans Bloesch.

22    In Frühjahr 1902 besucht Klee in Rom eine Gruppenausstellung, an der ihn die erotischen Zeichnungen von Auguste Rodin faszinieren. Er bezeichnet Rodins moderne Arbeiten als »Aktkarikaturen«. Paul Klee orientiert sich in den folgenden Jahren stark an Auguste Rodins Werk.

23    In seinem Aufsatz Grundlinien des Frühexpressionismus (1938) spricht Fritz Schmalenbach von Hodlers verzerrender Darstellung seiner Modelle: »Er [Hodler] verzerrt, um etwas Bestimmtes auszudrücken, nicht wie Toulouse-Lautrec oder Munch unmittelbar das Bild, sondern er verzerrt das Modell und gibt es dann realistisch wieder. Die Expression liegt nicht im Bild, sondern wird ins Modell vorverlegt. Das Modell führt gleichsam eine expressive Pantomime auf, die das Bild unverzerrt darstellt«. Vgl. Fritz Schmalenbach, Hodlers Stellung im Frühexpressionismus, in: Das Werk. Schweizerische Zeitschrift für Baukunst, Gewerbe, Malerei und Plastik. Offizielles Organ des Bundes Schweizer Architekten u. d. Schweizerischen Werkbundes, Bd. 25, H. 7, 1938, S. 193-198, S. 196. Doch es lag Klee total fern solchen Verzerrungen und Übersteigerungen »einen erhebenden Ausdruck geistiger, seelischer oder gar symbolischer Bedeutung mitzuteilen, so wie es Hodler im Vertrauen auf eine Harmonie von Körperhaltung und Seelenstimmung tat«. Vgl. Otto Karl Werckmeister, Klees Orientierungskünstler, in: Ausst.-Kat. Das Universum Klee, Neue Nationalgalerie, Berlin, 31.10.2008-8.2.2009, S. 25–51, S. 26-28. Zur Hodler und Klee vergleiche auch Charles Werner Haxthausen, Paul Klee: The Formative Years, Dissertation, 2., um ein Vorwort verm. Aufl., New York/London 1981, S. 122ff.

24    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 234.

25    Vgl. Klee 1988, Tgb. Nr. 456, S. 162, S. 488 (Hausenstein I 456), und S. 510 (Hausenstein II).

26    Die Ikonographische Analyse von Vater und Sohn bleibt noch ein Desiderat.

27    Vgl. Werckmeister 2008, wie Anm. 23, S. 28.

28    Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 301.

29    Klee 1979, Briefe, S. 336.

30    Klee orientierte sich auch an kunsthistorischen Vorbildern. Die unmittelbaren Vorläufer für die Darstellung Jungfrau im Baum finden sich in der zeitgenössischen Graphik, bei Félicien Rops und bei Ferdinand Hodler sowie in der Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts, besonders in den Bildern der Serie »Die Bösen Mütter« Giovanni Segantinis aus dem Jahre 1894. Vgl. Frank Zöllner, Das Ende des Körpers: Paul Klees künstlerische Ethik im zeitgenössischer Triebökonomie, in: Angelika Corbineau-Hoffmann u. Pascal Nicklas (Hrsg.), Körper/Sprache: Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft, Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 213-240, Werckmeister 2008, wie Anm. 23, S. 26 und Haxthausen 1981, wie Anm. 23, S. 122ff.

30     Vgl. Klee 1979, Briefe, S. 336.