Der Ostermundiger Steinbruch erzählt sich
von Jürg Halter
»Seit dem Mittelalter wird an und in mir abgebaut. Sie nennen mich den ›Ostermundiger Steinbruch‹. Mit den neuen industriellen Möglichkeiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte der Abbau hier seinen Höhepunkt. Zu jener Zeit war ich der grösste Steinbruch in der Schweiz. Mein Sandstein wurde zum Bau des Münsters, des Rathauses, der Heiliggeistkirche und vieler anderer Gebäude in der Stadt Bern verwendet. Mein Material wurde aber auch weit über die Landesgrenzen hinaus geliefert. Ich, beziehungsweise mein Abbau, mein stetes Verschwinden, hat die Gemeinde Ostermundigen stark geprägt. Generationen von Taglöhnern, Steinbrechern und Baumeistern haben ihre Existenz auf mir begründet.
Unzählige Gebäude, einfache wie feudale, sind aus meinem Material entstanden. So habe ich es mir jedenfalls erzählen lassen. Ich selbst habe bedauerlicherweise nie eines der Gebäude, die unleugbar aus meinem Körper geschlagen wurden, zu Gesicht bekommen. Überhaupt: Was spreche ich von Gesicht? Meines ändert sich alle Tage. Ich habe schon Millionen von Gesichtern gehabt. Mit jedem Abbruch habe ich ein neues erhalten. Ich bin der Beweis, dass einem Gegenwachstum lebendig hält, wenn Sie verstehen, was ich meine?
Schon seit langer Zeit ist es aber ruhiger um mich geworden, heute werde ich nur noch zu Renovationszwecken abgetragen. Ich und meine Geschichte sind jedoch bis in die Gegenwart bei Lichte gesehen das Wahrzeichen von Ostermundigen geblieben.
In mir fand der Maler Ferdinand Hodler die Modelle für sein Meisterwerk ›Der Rückzug der Eidgenossen nach der Schlacht von Marignano‹, das heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich ausgestellt ist.
Vor allem Paul Klee liess sich in seinem künstlerischen Lebenswerk, ich darf das fast ganz bescheiden anmerken, massengebend vom Ostermundiger Steinbruch leiten. Klee war von mir und den in mir arbeitenden Menschen begeistert und hatte sich deshalb oft hier aufgehalten; er nannte mich schlicht den ›schönen Ostermundiger Steinbruch‹. Ich diente ihm als Inspirationsquelle für zahllose Bilder und Zeichnungen. Hin und wieder hat er gar leise zu mir gesprochen, dabei habe ich ihm geschworen, dass ich von seinen mir anvertrauten Geheimnissen niemals jemandem etwas preisgeben würde. Ich verrate Ihnen nur so viel: Es könnte sein, dass die Kunstgeschichte sonst weitreichend umgeschrieben werden müsste ... Klees Grab befindet sich, nicht zu vergessen, noch immer auf dem Schosshalden-Friedhof.
Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja, also heutzutage werde ich vorab von an Kultur Interessierten oder Tagesausflüglern besucht. In mir wurde überdies schon Theater gespielt! Madame Bissegger setzte sich hier in Szene. – Mir ist es ganz recht so wie es ist. Wenn das noch lange so wie zur meiner ›Abbauhochzeit‹ weiter gegangen wäre, würde heute vielleicht nicht mehr von mir übrig geblieben sein als ein Sandsteinkörnchen; das dann eines Tages, mir nichts, dir nichts, von einem hier spielenden Kind, unter einem seiner Fingernägel abtransportiert werden würde. Zum Schluss hätte ich mich so in einer Ritze im Abfluss eines Lavabos wieder gefunden. An einem Ort, an dem mir bestimmt niemand mehr geglaubt hätte, dass aus mir einst das Münster gebaut worden sei.«
Jürg Halter, * 1980 in Bern, wo er meistens lebt. Studium an der Hochschule der Künste Bern. Halter ist Dichter und Performance Poet. Auftritte an renommierten Literaturfestivals in der ganzen Welt. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt erschienen: Sprechendes Wasser (Secession Verlag, 2012, Kettengedicht mit Shuntaro Tanikawa), Wir fürchten das Ende der Musik (Wallstein, 2014, Gedichte), Hoffentlich verliebe ich mich nicht in dich (Edition Patrick Frey, 2014, Text-Bilder-Buch mit Huber.Huber) .
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